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11.04.2025

Erinnerung an die Zerstörung des Gotischen Viertels und an gegenwärtige Kriege

Gedenkveranstaltung in St.-Georgen-Kirche / Bürgermeister Thomas Beyer: "Frieden, Freiheit und die Fähigkeit, sich zu verteidigen, gehören zusammen."

Vor 80 Jahren, in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1945, waren bei einem Angriff große Teile des Wismarer Altstadtkerns zerstört worden. Viele Gebäude wurden zerstört oder beschädigt, es gab besonders im Gotischen Viertel große Schäden. 14 Menschen waren in jener Nacht ums Leben gekommen. Unter den Opfern waren etliche Kinder.

An diese verheerende Nacht und insbesondere an die Zerstörung des Gotischen Viertels in Wismar erinnerten sich am 11. April 2025 etwa 140 Menschen in der St.-Georgen-Kirche. Während der knapp einstündigen Gedenkveranstaltung rief Thomas Beyer nicht nur das Geschehen im Jahr 1945 noch einmal ins Gedächtnis. Der Bürgermeister thematisierte auch die Kriege der jüngsten Zeit und den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Eine Rede hielt ebenso die Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Kristina Kühnbaum-Schmidt.

In diesem Jahr wurde das Programm von Schülerinnen und Schülern mehrerer Klassenstufen des Wismarer Gerhart-Hauptmann-Gymnasiums gestaltet. Mit künstlerischen, musikalischen und poetischen Beiträgen brachten die Jugendlichen ihre Gedanken und Wünsche zum Thema Frieden zum Ausdruck. Dafür hatten sie seit mehreren Wochen einzeln und in Gruppen in den verschiedenen Fachbereichen gearbeitet.

So erklangen zum Beispiel Lieder wie "Kein schöner Land", "Shalom chaverim" und "Wind of change", es gab den Poetry-Beitrag "Der letzte Weltkrieg" und die Präsentation eines "Wünschebaums", der auch vom Publikum mit Wünschen versehen wurde. Der Apfelbaum wird Teil einer Streuobstwiese im Ökologischen Schulort Wismar.

Hier die Rede von Bürgermeister Thomas Beyer während der Gedenkveranstaltung in St. Georgen (es gilt das gesprochene Wort):

Diese alljährlich stattfindende Gedenkveranstaltung, meine sehr verehrten Damen und Herren, thematisiert die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges in unserer Stadt. Wir gedenken der vielen Toten, die es auch in Wismar gab. Die Veranstaltung erinnert an die Zerstörung des Gotischen Viertels, bedenkt die Ursachen des damaligen Krieges, der von Nazideutschland ausging und von vielen, vielen Menschen in Deutschland mitgetragen wurde, mit, und kann doch auch die heutige Zeit, die aktuellen Kriege, nicht ausblenden.

Deswegen sehen Sie, während ich rede, Bilder von Zerstörungen in unserer Partnerstadt Tschornomorsk in der Ukraine, die uns aus Tschornomorsk zur Verfügung gestellt wurden. Zerstörungen, die wir Wismarer, als wir die Stadt besuchten, teilweise selbst sahen und deren Zahl seitdem noch deutlich größer wurde.

Im Sinne dieses Gedenkens, In-Erinnerung-Rufens und des Vergegenwärtigens heutiger Ereignisse begrüße ich Sie alle hier in St. Georgen, in dieser wiederaufgebauten gotischen Kathedrale, die an sich noch die Spuren der Zerstörung trägt und insofern Mahnmal ist und auch bleiben soll.

Ich freue mich, dass Sie, sehr geehrte Frau Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt, zu uns gekommen sind und auch zu uns sprechen werden. Ich freue mich ebenfalls sehr, dass sich Schülerinnen und Schüler des Gerhart-Hauptmann-Gymnasiums aus unterschiedlichen Klassenstufen Gedanken gemacht haben und uns ihre Ergebnisse der Reflektion über Kriegsvergangenheit, Kriegsgegenwart und unsere Zukunft auf unterschiedliche Weise zeigen werden.

Schon öfter habe ich hier den Ruf unserer Mütter und Väter, unserer Großmütter und Großväter, diesen Ruf "Nie wieder!" zitiert. Wir haben ihn gehört, diesen einfachen und eindringlichen Ruf. Er ist verhallt. Er ging nicht in Erfüllung. Nie wieder Krieg, das war eine Illusion, weltweit und spätestens in den 90er-Jahren im ehemaligen Jugoslawien, heute erst recht – angezettelt durch Russland in der Ukraine, ist der Krieg auch nach Europa zurückgekehrt. Wir vermochten es nicht zu verhindern. Auch 2014, als die Krim annektiert wurde, haben wir weggeschaut. Weggeschaut wurde auch vor 1933 und nach 1933. Und weggeschaut wird auch heute immer wieder.

Das nüchterne Fazit des Wunsches unserer Vorfahren unter dem Eindruck des furchtbaren Weltkrieges, dass es nie wieder Krieg geben möge, ist, dass dieser Wunsch eben nicht in Erfüllung ging. Das nüchterne Fazit darüber hinausgehend ist, dass wir dessen gegenwärtig sein müssen, dass es wohl immer wieder Diktatoren, Despoten, Politikerinnen und Politiker geben wird, die Krieg als Macht- und Eroberungs- sowie Unterdrückungsmittel nutzen wollen und werden, wenn wir sie nicht daran hindern. Und auch hier lautet das nüchterne Fazit für mich, dass diese daran zu hindern, immer auch mit eigener Stärke verbunden sein muss, ansonsten wird unsere Freiheit, unsere Form des Zusammenlebens bald auch der Geschichte angehören. Manchmal möchte ich fast meinen, kommt genau das fast unaufhaltsam auf uns zu.

Ich weiß, das alles klingt nicht besonders hoffnungsvoll. Was mir jedoch Hoffnung gibt, sind gerade die Menschen in der Ukraine, gerade jene, denen ich dort wie hier oft begegnet bin. Sie geben nicht auf. Sie verteidigen sich. Sie bauen in beeindruckender Schnelligkeit auf, was zerstört wurde. Sie versuchen, den Menschen Hoffnung zu geben, versuchen, soweit man das überhaupt so ausdrücken darf, dem Leben Normalität zurückzugeben. Und das selbst auch nach solch furchtbaren Morden wie jüngst in Krywyj Rih, als unter anderem 9 Kinder auf einem Spielplatz durch eine russische ballistische Rakete starben.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer glauben an ihre Freiheit. Sie glauben, das Unmögliche möglich machen zu können. Sie wollen ihr Land wieder aufbauen. Sie wollen die Demokratie festigen, weiterentwickeln. Und sie sehnen sich nach Frieden - sie tun das mehr als wir alle, sie sehnen sich danach und werden trotzdem nie ihre Verteidigungsfähigkeit aufgeben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
natürlich bleibt dieser Wunsch "Nie wieder!" dennoch bestehen. Natürlich teile ich, teilen wir den Wunsch, teilen wir auch die Sehnsucht nach Frieden. Freiheit und Frieden gehören zusammen. Die Erfahrung unserer Freundinnen und Freunde aus unserer Partnerstadt Tschornomorsk und aus der Ukraine insgesamt, nämlich dass Frieden, Freiheit und die Fähigkeit, sich zu verteidigen, zusammengehören, gehört zu dieser Gedenkstunde hinzu, so ernüchternd sie für manch einen sein mag.

Nein, ich werde nicht aufhören zu hoffen, dass es einmal ein "Nie wieder!" geben wird, zurzeit allerdings ist es weit aus unserem Horizont gerückt. Bleiben wir bitte solidarisch mit jenen, die im Krieg leiden, wo auch immer und wie kompliziert die jeweilige Situation auch sein mag. Die Ukraine habe ich, sehr wohl um die Kriege in Gaza und Israel, in Somalia, in Myanmar und wo auch immer wissend, hervorgehoben, weil dieser Krieg dort uns ganz besonders angeht, denn er bedroht ganz Europa, damit auch uns.

Möge die Sehnsucht der Menschen dort nach Frieden und Freiheit in Erfüllung gehen, eine Sehnsucht, die auch unsere sein sollte.

Kristina Kühnbaum-Schmidt sagte unter anderem:

"Nach dem Umsturz zum Ende der 80er-Jahre in Mittel- und Osteuropa schien die große Sehnsucht nach einem stabilen und friedlichen Zusammenleben in Freiheit und Demokratie für ganz Europa und nach Zusammenarbeit und dem Ende alter Feinschaften endlich möglichkeit zu werden. Doch die Gegenwart und auch der gegenwärtige neue Krieg in Europa, in der Ukraine, zeigt uns eindeutig, dass die Errungenschaften des Friedens immer wieder neu herausgefordert werden. Das es wichtig ist, gemeinsam für die unantastbare Würde aller Menschen einzustehen, wie es unser freiheitlicher und demokratischer Rechtsstaat im ersten Satz des Grundgesetzes festhält. Wir alle brauchen dafür - und nicht nur dafür - unsere Demokratie.
Aber unsere Demokratie braucht auch uns, jede und jeden Einzelnen von uns. Deshalb ist es gerade gegenwärtig so wichtig, zusammen für die Demokratie einzustehen und zu zeigen, wr wollen gemeinsam ein vielfältiges und friedliches Miteinander in einem weltoffenen Land, in einem demokratischen und weltoffenen Europa. Ein Miteinander, in dem Hass, Extremismus und spalterischer Populismus keinen Platz bekommen.
Es ist wichtig, sich zu erinnern, auch an die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, nicht um in der Vergangenheit zu verharren, sondern um Orientierung für Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Und sich für den Erhalt von Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen. Jede und jeder von uns trägt genau dafür Verantwortung - mit Worten, mit Taten, in der Art, wie wir miteinander umgehen, wie wir auf Unrecht reagieren und wie wir uns für Frieden einsetzen."

Und hier sehen Sie eine Videobotschaft von Bürgermeister Thomas Beyer zur Gedenkveranstaltung:

Videobotschaft_Gedenkveranstaltung

Quelle: Pressestelle der Hansestadt Wismar